Cover
Titel
Swiss Science. African Decolonization and the Rise of Global Health, 1940-2010


Autor(en)
Meier, Lukas
Reihe
Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 186
Erschienen
Basel 2014: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
323 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Patricia Hongler

Schweizer Geschichte fand im 20. Jahrhundert nicht nur innerhalb der nationalen Landesgrenzen statt, sondern war mit jenen Teilen der Welt verbunden, die zuvor von europäischen Mächten kolonisiert worden waren. Von dieser These geht Lukas Meier in seinem Buch aus, das auf einer an der Universität Basel entständenen Dissertation beruht. Er fragt darin nach dem Zusammenwirken von afrikanischer Dekolonisation und Schweizer Gesundheitswissenschaften seit den 1940er Jahren und untersucht - im Sinne einer totoiro croisée - die historische Bedingtheit und Veränderbarkeit der sich daraus ergebenden Verflechtungen.

Im Zentrum der Studie stehen das 1943 in Basel gegründete Schweizerische Tropeninstitut und seine beiden Forschungsstationen auf dem afrikanischen Kontinent. Das sind zum einen das Centre Suissede Recherches Scientifques en Côte d’Ivoire in Adiopodoumé, nahe der ivorischen Hauptstadt Abidjan, sowie ein über die Jahrzehnte zum Forschungs- und Entwicklungshilfezentrum ausgebautes Labor in Ifakara im tansanischen Ulanga District. Den Einbezug zweier Fallbeispiele nutzt Meier, um ein differenziertes Bild der afrikanischen Dekolonisation zu zeichnen. In sieben Kapiteln führt die Studie chronologisch von den 1940er Jahren bis dicht an die Gegenwart heran. Nachdem Meier in einem ersten Schritt auf die zunehmende Bedeutung wissenschaftlicher Expertise im französischen und britischen Spätkolonialismus eingeht, konzentriert er sich im zweiten Kapitel auf die Geschichte der Tropenwissenschaften in der Schweiz sowie auf die Gründung der beiden von ihm untersuchten Schweizer Forschungsstationen in West- und Ostafrika. Dabei wird deutlich, dass das Schweizerische Tropeninstitut von Beginn weg innerhalb eines imperialen und kolonialen Netzwerkes agierte. Das 1951 gegründete Labor in Côte d'Ivoire war Teil eines französischen Forschungszentrums, des Office de la Recherche Scientifique et Technique Outre-Mer (ORSTOM). Der Spielraum für die Schweizer Forschenden blieb aufgrund der starken französischen Präsenz gering, und sie beschränkten sich in den ersten Jahren vor allem auf das Sammeln von Proben für das Tropeninstitut in Basel. Im tansanischen Fall wirkten die Schweizer Aktivitäten hingegen schon bald nach der Gründung im Jahr 1957 auf das direkte soziale Umfeld des Labors ein. In den folgenden Jahrzehnten verstärkte sich die Verschränkung von Gesundheitswissenschaften und Sozialpolitik unter dem Paradigma der Entwicklungshilfe weiter. Das Tropeninstitut kooperierte dabei eng mit den tansanischen Behörden, für die der Ausbau des ländlichen Gesundheitswesens nach der Unabhängigkeit grosse Relevanz hatte. Die in Tansania gemachten Erfahrungen prägten die dort tätigen Schweizer Wissenschaftler, die später mit ihrem sozialmedizinischen Wissen die schweizerische Entwicklungs- und Gesundheitspolitik beeinflussten.

Während im tansanischen Beispiel der Forschungsalltag und die dabei ausgetragenen Konflikte gut greifbar werden, bleibt die Beschreibung der Praktiken im Schweizer Labor in Côte d'Ivoire eher an der Oberfläche. Als Teil des französischen Forschungsinstituts funktionierte dieses gemäss Meier auch nach der politischen Unabhängigkeit des Landes weitgehend losgelöst von seiner lokalen Umgebung. Ein stärker alltaggeschichtlicher Zugang hätte hier aber womöglich interessante Einblicke in das Funktionieren einer solchen europäischen Exklave geben können. Die spannendste Analyse zur Schweizer Forschungstätigkeit in Côte d'Ivoire liefert ein Teilkapitel zu Nestlé. Das Unternehmen forschte während der 1960er und 70er Jahre in Côte d'Ivoire zum Thema Mangelernährung und schuf sich dabei einen zu seinen Produkten passenden Untersuchungsgegenstand: den unterernährten afrikanischen Landbewohner.

Die Stärke von Meiers Studie liegt in der Art und Weise, in der sie Verflechtungen und ihre Auswirkungen auf verschiedenen Ebenen nachzeichnet. In der Schweiz prägte der Gründer und langjährige Leiter des Tropeninstituts, Rudolf Geigy, mit seinen Kontakten zur Schweizer Pharmaindustrie und zum Bundesrat die Aktivitäten des Instituts. Aber auch im afrikanischen Kontext waren die Schweizer Forschungsaktivitäten eng mit Wirtschaft und Politik verknüpft. Mit dieser Feststellung distanziert sich Meier explizit von Post-Development-Ansätzen, die in der Entwicklungsidee einen machtvollen, gegen die Dritte Welt gerichteten Kontrollapparat des Westens sehen. Er betont vielmehr die Wichtigkeit, welche die Entwicklungsidee auch für afrikanische Akteure hatte, und betont, dass die Schweizer Forschenden stark auf das Wissen von lokalen Mitarbeitenden angewiesen -ja ihnen teilweise regelrecht ausgeliefert waren. Auf mikrohistorischer Ebene zeigt Meier eindrücklich, wie Afrikaner und Schweizer jeweils versuchten, die antizipierten Erwartungen der Gegenseite zu erfüllen.

Weniger überzeugend ist Meiers Bestreben, eine schweizerische Besonderheit im kolonialen und postkolonialen Afrika ausmachen zu wollen. Wenn er beispielsweise schreibt, dass sich die Schweiz am Vorabend der afrikanischen Unabhängigkeit als «key player in the continent's development aspirations» (S. 178) habe positionieren können, drängt sich die Frage auf, inwiefern hier vor allem Schweizer Selbstwahrnehmungen wiedergegeben werden. Unnötig erschwert wird die Lektüre durch die Verwendung unzähliger Abkürzungen für Institutionen und Funktionen.

Über das gesamte Werk hinweg gesehen gelingt es Meier, an konkreten Beispielen auf anregende Weise globale Verflechtung zu beschreiben. Wissenschaftliehe Forschung während der Dekolonisation wird dabei als komplexer Aushandlungsprozess greifbar, der sich je nach Kontext sehr unterschiedlich gestalten konnte. Damit ist die Studie nicht nur ein gelungener Beitrag zu einer Globalgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, sondern bietet auch wertvolle Einblicke in die Geschichte der Gesundheitswissenschaften in Afrika.

Zitierweise:
Patricia Hongler: Rezension zu: Lukas Meier, Swiss Science. African Decolonization and the Rise of Global Health, 1940-2010, Basel: Schwabe Verlag, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 2, 2016, S. 330-332.

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Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 2, 2016, S. 330-332.

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